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Opfer bleiben oder würdig mit sich selbst umgehen?
Ich habe Möglichkeiten!

In den therapeutischen Sitzungen begegnen mir Menschen, die sich daran gewöhnt haben, dass sie verletzt werden und sich verletzt fühlen. Schon von früher Kindheit an haben sich solche Muster geprägt. Das Verletztsein ist zu einem vertrauten Minus-Ort geworden (siehe Thematik in Freundesbrief Nr. 26). Das eigene Verletztsein wird nicht wahrgenommen, übergangen, dafür um so mehr für andere gesorgt und gedacht. Ältere Geschwister, die Verantwortung übernommen haben für jüngere; Kinder, die vermittelnd zwischen Vater und Mutter standen; Mädchen und Knaben, die in Situationen von emotionalem, sexuellem oder geistlichem Missbrauch gelernt haben zu schweigen.
Das sich selber Übergehen wir dann auch ins Glaubensleben übertragen, die Bibel verzerrt ausgelegt: Man solle von sich wegschauen, man solle sich aufopfern für den Nächsten, man solle dem Verletzer immer wieder vergeben. Gott der Vater und Jesus Christus aber begegnen uns anders. Da steht die Würde jeder einzelnen Person im Vordergrund, die Würde, die uns als Frau und als Mann zugesprochen ist. Gott möchte, dass Men­schen im Wesen ihrer Persönlichkeit wertgeachtet und auferbaut werden, dass der Mensch in seiner Einzigartigkeit bestätigt und gefördert wird.

„Und darum wird der HERR darauf warten, euch gnädig [barmherzig] zu sein, und darum wird er sich erheben, um sich über euch zu erbarmen ... Glücklich alle, die auf ihn harren.“ Jesaja 30,18

Ein guter Boden also, auf welchem wir uns auf den Weg machen können, uns selber
in Würde und Achtung zu begegnen. Gehe ich bei mir selbst über wesentliche Gefühle und Gedanken hinweg, habe ich mit mir selbst keinen würdevollen Umgang, so werde ich auch so mit anderen Menschen umgehen.

Andere Menschen können uns in einer Art und Weise begegnen, welche auf uns verletzend wirkt. In einer Übung begegnen wir einer Situation, welche in uns verletzende Gefühle bewirkt hat:

1.     Ich begebe mich in eine Situation aus der Gegenwart, in welcher mir jemand verletzend begegnet ist. Ich führe mir die Person vor Augen. Ich erinnere die Worte, die Mimik und Gestik, die Handlungen dieser Person.

2.     Ich beachte jetzt, was ich in mir wahrnehme. Ich begegne den Gefühlen und Gedanken die mir dabei begegnen. Und ich notiere mir diese Wahrnehmungen oder versuche diese, durch Malen auszudrücken.

3.     Ich habe diese Gedanken und Gefühle vor mir. Diese sind mir jetzt ein Gegenüber. Wie sieht meine Beziehung zu diesen Gefühlen aus? Was bin ich spontan geneigt, damit zu tun? Notieren, malen.

Opfer bleiben oder Möglichkeiten entwickeln?
Wir haben verschiedene Möglichkeiten, in verletzenden Situationen zu handeln. Ein erster möglicher Schritt ist, für einen bewussten Fluchtweg aus destruktiven Bezie­hungs­mustern zu sorgen. Dazu eine Übung:

1.     Woran werde ich erkennen, dass eine bewusste Flucht nötig sein wird?

2.     Was sind mögliche Fluchtwege aus verletzenden Situationen? Was sind meine Möglichkeiten, was kann ich tun, um ein destruktives Muster zu unterbrechen?

3.     Ich informiere nach Möglichkeit die im Beziehungssystem Beteiligten über mei­nen möglichen zukünftigen Fluchtweg.

Eine bewusste Flucht schafft kurzfristig Entspannung und ist ein Schutz vor weiteren Verletzungen oder massiveren Folgen von Gewalt auf verbaler oder körperlicher Ebene. Mit dem Sorgen für einen bewussten Fluchtweg haben wir bereits einen wesentlichen Schritt getan. Der Fluchtweg alleine ist jedoch erst die eine Hälfte, eine Hilfe für den Moment. Würde es dabei bleiben, so wären wir noch nicht mit uns selbst und der Situation versöhnt. Das Grenzen setzten können wäre zwar vorder­gründig möglich, hintergründig jedoch noch immer angstmotiviert und auf innerer Unfreiheit beruhend. Es wäre damit noch nicht möglich, neuen verletzenden Situationen befreiter begegnen zu können. Selbsthilfegruppen beispielsweise haben sehr gute Seiten, manchmal aber wird die Gruppe zu einem Ort, wo man sich unbewusst gegenseitig als Opfer bestätigt und sich darin abschottet. Das bewusste Begegnen mit verletzenden Situationen – innerhalb eines definierten, geschützten Rahmen – wird ausgeklammert. Das sich mit Opfern verbünden kann auch in einer schlechten Seelsorge oder Therapie geschehen.

In meinen therapeutischen Gesprächssitzungen arbeite ich mit verletzten Frauen, die sexuell, emotional oder geistlich von Männern missbraucht worden sind. Oftmals haben diese Frauen keine näheren Kontakte mehr zu Männern. Schon dadurch, dass ich ihnen im Setting als Mann gegenüber sitze und begegne, geschieht für diese Frauen ein Stück Versöhnung, ein Stück Heilung, welches im alltäglichen Umfeld nur erschwert aufzubauen wäre.

Der Fluchtweg aus destruktiven Mustern schafft Raum, um längerfristige Möglichkeiten, die zweite Hälfte, zu erwägen. Fühle ich mich als Opfer, werde ich in Bezie­hungen verletzt, so trage ich durch mein eigenes Verhalten mit dazu bei. Mein Gegenüber oder die anderen in einer Gruppe können es sich offenbar leisten, sich so zu verhalten, dass dies auf mich verletzend wirkt. Unbewusst gebe ich ihnen quasi die Erlaubnis dafür. Diese Einsicht löst im ersten Moment vielleicht Empörung aus: „Ich werde verletzt und jetzt soll ich auch noch schuld daran sein!“ Lassen wir diese Einsicht jedoch auf uns wirken, so begegnet uns darin etwas sehr ermutigendes: Ich stelle nämlich fest, dass ich Möglichkeiten habe, meinen Handlungsraum zu erweitern. Ich kann mitbestimmen. Ich kann einerseits bewusst dafür sorgen, dass ich zu meinem vertrauten Minus-Ort des Verletztseins geführt werde UND ich kann neue Möglichkeiten erwägen und damit das Ankommen an einem positiveren Ort bewirken. Ich bin nicht mehr passiv ausgeliefert, ich kann für BEIDES sorgen. Dazu eine Übung:

1.     Was habe ich dazu beigetragen, dass es zu einer für mich verletzenden Situation gekommen ist? Wodurch habe ich meinem Verletzer Anlass gegeben?

2.     Wie habe ich mitgeholfen, dass ein verletzendes Konfliktmuster aufrecht­erhalten wurde? Was sind meine Methoden (Verhalten, Reden, Ton, Mimik usf.)?

3.     Was habe ich in meinem Hintergrund nicht wahrgenommen und bin darüber weggegangen? Wo bin ich daher nicht würdevoll mit mir selbst umgegangen?

4.     Was habe ich an Möglichkeiten unterlassen, ein destruktives Muster zu unterbrechen? Was hätte ich tun können, damit es nicht zu dieser verletzenden Situation gekommen wäre?

5.     Wie könnte ich bewusst mein Gegenüber dazu bringen, dass er oder sie verletzend mit mir umgeht? (d.h. dass ich – und wir beide zusammen – am Schluss bewusst bei unseren vertrauten Minus-Orten ankommen)?

An Leiden gewöhnt, sorge ich unbewusst dafür, dass ich immer mal wieder dort ankomme. Sorge ich bewusst für mein Leiden, so bin ich schon mal nicht mehr einfach Opfer, sondern bin aktiv beteiligt. Ich habe Möglichkeiten. Der Minus-Ort wandelt sich durch bewusste Annäherung vom Feind zum Freund.

Mit den Verletzungen einen Weg der Versöhnung gehen

Diese Gedanken und Übungen sind praktische Elemente auf einem Weg der Versöhnung mit verletzenden und unangenehmen Situationen. Jesus Christus ermutigt uns, mit den Verletzungen einen Weg zu gehen, einen würdigen Umgang pflegen, diese anschauen, ans Licht holen, eine bewusste Beziehung aufbauen.

Was bewirkt dieser Weg? > Die schmerzlichen Gefühle verlieren durch die Annäherung an Schärfe. > Das Vertrauen und eine gute Abhängigkeit von Gott wächst: Ich erbitte von Gott, dass er mir auf diesem Weg beisteht und mich schützt. > Ich kann mir selber vergeben, weil mehr und mehr ans Licht kommt, wie lieblos ich mit mir selbst (mit meinen Verletzungen) umgegangen bin. > Langfristig gesehen helfe ich auch meinem Gegenüber wahrzunehmen, wie er oder sie mit anderen und mit sich selbst umgeht. Wenn ich alles schlucke, dann schade ich mir UND dem Gegenüber.

Würde es bei der ersten Hälfte bleiben, dem „Halt!“ sagen, so führte dies in Bezie­hun­gen fast immer zur Trennung. Das Setzen von Grenzen als einzige Möglichkeit bleibt angstmotiviert und bewirkt daher auch beim Gegenüber ein Minus-Gefühl, der Widerstand verstärkt sich, die Distanz in der Beziehung nimmt zu.

Kommt die zweite Hälfte als Möglichkeit hinzu, so kann dadurch ein konstruk­tiver Dialog entstehen. Frage ich beispielsweise: „Wie trage ich mit dazu bei? Wie könntest du mir helfen, bei meinem Minus-Ort anzukommen?“ dann wirkt dies auf das Gegenüber ermutigend und öffnend, sich selber und der Beziehung zu begegnen.

 þ   Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Referat „Die Kunst zu ermutigen“. Die vollständige Dokumentation können Sie auf der Antwort-Seite zum Preis von Fr. 16.00 bestellen.

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